Verweilter Augenblick | Lingering Moment
In der Straßenfotografie von Hansgert Lambers (*1937 in Hannover), die er über sieben Jahrzehnte hinweg in Barcelona, Berlin/DDR und West-Berlin, Bologna, London, Ostrava, Paris und Prag aufnahm, ist sein von Humanismus und Neugier geprägtes Interesse an Menschen spürbar. Das Glück, die Erotik, die Traurigkeit und die Mühsal des Lebens finden sich als zur Conditio humana gehörige Daseinszustände in seinen Bildern. Ob seine Fotografien die Diskrepanz zwischen der Anonymität von riesigen Wohnanlagen und der einsamen Präsenz eines spielenden Kindes oder das intime Glück in einer eher unwirtlichen Umgebung in Ostrava in der ehemaligen ČSSR einfangen – seine Bilder erzählen Geschichte, die sich in den Köpfen der Betrachter:innen entfalten. Hansgert Lambers hat sich nie beruflich der Fotografie verschrieben. Obgleich er fast sein ganzes Leben lang fotografierte, ist sein Werk für viele noch zu entdecken. Lambers bezeichnet sich als „Liebhaber der Fotografie“ und widmet sich ihr nicht nur als Fotograf, sondern auch als Verleger (ex pose Verlag) und Rezensent. Hansgert Lambers, *1937 in Berlin; lebt und arbeitet in Berlin.
Bildautor*innen: Hansgert Lambers
Textautor*innen: Irene Bazinger, Ian Jeffrey, Matthias Reichelt
Gestaltung: Jürgen W. Lisken, kommunikationstransfer
Herausgeber*innen: Matthias Reichelt
Verlag: Fotohof edition
ISBN: 978-3-903334-40-3
Laudation von Hans-Michael Koetzle
Journalist, München
Verweilter Augenblick: Der Titel dieses 332 Seiten starken, reich bebilderten, gewichtigen, zugleich auf sympathische Art handlichen Bandes hat unübersehbar bei Henri Cartier-Bresson gelernt. Dessen Jahrhundertbuch The Decisive Moment war 1952 erschienen und hatte in Wort und Bild, in Theorie und staunenswerten Resultaten den Weg in eine neue Disziplin gewiesen: das Fotografieren auf der Straße. Man nehme: eine flexible kleine Kamera. Man leiste sich: gutes Schuhwerk. Man warte passables Wetter ab und bewege sich geschmeidig, ohne Eile, ohne Ziel, ohne Erfolgsdruck, allerdings mit offenen Augen, Neugier und Empathie durch eine Welt, die man sich als wohlfeiles, immerwährendes Theater vorzustellen hat. Als permanente Bühne für alle möglichen Dramen und Dramolette, Komödien und Tragödien. Worum es geht: Fotografierend aus dem Chaos der Ereignisse sprechende Momente herauszudestillieren. Momente, die übergreifend etwas erzählen über unsere Befindlichkeit, unser Leben, unsere Kultur, unsere Freuden und Nöte im Kleinen oder die im Großen so etwas wie eine „Condition humaine“ skizzieren. Hansgert Lambers, 1937 in Hannover geboren, ist der Idee gefolgt, ohne formal-ästhetisch dem Geometer Henri Cartier-Bresson nachzueifern. Früh hat Lambers zu einer eigenen, entspannten, lebendigen Bildsprache gefunden, die rückblickend ein in rund vier Jahrzehnten gewachsenes Werk in Schwarz-Weiß zusammenhält. Bereits 14-jährig besitzt er eine erste Kamera. Seitdem hat ihn die Fotografie als künstlerisches Ausdrucksmittel umgetrieben. Bewusst hat er sich gegen das Medium als Broterwerb entschieden, stattdessen ordentlich studiert, um in der Folge als Ingenieur für IBM tätig zu sein. So betreute er im Auftrag des Unternehmens über gut ein Jahrzehnt Großrechenanlagen unter anderem in der CSSR, wo Lambers nicht zuletzt Bekanntschaft machte mit einer direkten, ungeschminkten, im besten Sinne welthaltigen Fotografie, die ihn in seinem Tun entschieden bestätigt haben dürfte. Einer Fotografie, die findet, nicht erfindet, die auf genaues Schauen baut, wartet, bis Dinge sich fügen, sprechende Momente antizipiert, dann aber – pronto! – reagiert. René Burri nannte dies: den Zufall züchten. Über viele Jahre hat Hansgert Lambers, der sich nicht zuletzt als Verleger von Fotobüchern viel zu wenig beachtete Verdienste erworben hat, im Stillen, ohne Aufhebens, vor allem für sich selbst fotografiert. Hat eine Welt im Umbruch vermessen, um so, von heute aus gesehen, ein gerüttelt Maß Erinnerung zu stiften. Seine Bilderwelt ist Kleinkunst vom Feinsten: subtil, dabei voller Empathie, zutieftst menschlich, schalkhaft, diebisch, tragikomisch, nicht selten doppelbödig, mitunter nachgerade surreal und immer wieder subcutan politisch. Nun haben der Berliner Kulturjournalist Matthias Reichelt und die FOTOHOF edition in Zusammenarbeit mit Hansgert Lambers diesen schlummernden Schatz gehoben und in einen überzeugend choreografierten Bildband übersetzt, in ein Buch das nach einhelliger Meinung der Jury in der Kategorie „Bildband Künstler*innen/Fotograf*innen“ eine Auszeichnung in Gold verdient.