Goldmedaille 23|24
Dokumentarisch-Journalistisch

ORDER 7161

Am 16. Dezember 1944 unterzeichnete Stalin den Befehl 7161 – der geheime Beschluss des Staatskomitees für Verteidigung – zur „Mobilisierung und Internierung aller arbeitsfähigen Deutschen, Männer im Alter von 17 bis 45 Jahren, Frauen von 18 bis 30 Jahren" aus Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei. Ihre anschließende Deportation zur Zwangsarbeit diente dem Wiederaufbau der Sowjetunion und galt als Reparationsleistung für die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt wurden 112.480 Männer und Frauen deportiert. Die Mehrzahl von ihnen waren - fast siebzigtausend Personen - Deutsche aus Rumänien. Viele Deportierte starben aufgrund extremer Kälte, schwersten Arbeitsbedingungen und mangelhafter Ernährung. Jene, die die ersten Hungerjahre überlebt hatten, kehrten Ende 1949 nach Rumänien zurück. ORDER 7161 ist ein Foto-Textbuch, das die Geschichte der Deportation von Rumäniendeutschen anhand von Porträts und Erinnerungen von 40 Überlebenden, sowie ergänzenden Archiv- und Kontextbildern erzählt. Mein Vorhaben die ehemaligen Deportierten aufzusuchen und zu fotografieren erwies sich als „letzte Chance“, denn viele der Überlebenden, die ich zwischen 2012 und 2014 antraf, gehörten 1945 zu den Jüngsten; die meisten sind mittlerweilen verstorben. Letztlich berichtet dieses Buch nicht nur von einem oft übersehenen Kapitel der europäischen Geschichte, sondern es ist auch ein Dokument meiner Begegnung mit den einzelnen ehemaligen Deportierten und spiegelt den empathischen Charakter unseres Treffens und Austauschs wider.

Bildautor*innen: Marc Schroeder

Textautor*innen: Marc Schroeder, Dr. Heinke Fabritius

Gestaltung: Rob van Hoesel

Herausgeber*innen: The Eriskay Connection

Verlag: The Eriskay Connection

ISBN: 978-94-92051-70-7

Laudation von Dr. Anja Schürmann
Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) Essen | Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Forschungsorganisation

Ein Ereignis unserer jüngsten Geschichte, nicht besonders stark beleuchtet: „Auf Stalins Befehl vom 16. Dezember 1944 wurden rund 70.000 Rumäniendeutsche als Reparationsleistung für den Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert“. Dieser Satz ist ein Zitat. Ein Zitat, das sich bereits auf dem Cover des Buches Order 7161 – so hieß der Befehl – von Marc Schroeder finden lässt. Das Buch, das wir dieses Jahr in der Kategorie 02 auszeichnen, besteht bei weitem nicht nur aus Bildern. Es besteht aus Selbstzeugnissen, einem historischen Hintergrundbericht und einem Nachwort von Heinke Fabritius. Es besteht aus Fotografien und Egodokumenten der Deportierten und ist damit nicht nur ein Fotobuch, sondern ein Archiv. Ein Archiv, das in einer Zeit entstand, in der die Menschen, die damals als Sachmittel galten, noch lebten. Und daher verdanken wir dem Fotografen eine historische, archivarische und künstlerische Arbeit, die die älteste Funktion der Fotografie aufs Neue belebt: Ein Gedächtnis zu sein.

Es gibt zahlreiche dokumentarische Projekte, die sich an ähnlichen Themen entweder semantisch aufpumpen oder verheben und ästhetisch hilflos der Masse an Überliefertem gegenüberstehen. Marc Schroeders Order 7161 kann dieser Vorwurf nicht gemacht werden. Er stellt seine Zeitzeugen in den Vordergrund: Knapp 80 Prozent des Buches sind ihnen gewidmet. Wir erfahren, dass viele Rumäniendeutsche dreisprachig aufgewachsen sind, weil jede Regierung die Minderheit anders – und ich sage den Begriff in distanzierenden Anführungszeichen – integrieren wollte. Wir erfahren, dass Begeisterung für den Nationalsozialismus auch eine Art war, sich von einer Minderheits- in eine Mehrheitsgesellschaft zu wünschen: obwohl man in Rumänien lebte, zu Deutschland zu gehören. Und wir erfahren, dass unter rumänischer Billigung ein nationalistischer Staat im Staat entstand, der den Namen Volksgruppe trug und dem 1942 die Schulen übergeben wurden – aus katholischer Hand. All das erfahren wir anonym – die Selbstzeugnisse der Interviewten sind nur als weiblich und männlich markiert.

Die Bildebene zeigt nicht nur die Zeitzeugen, sie nimmt auch ihre Perspektive ein. Lose werden die visuellen Fragmente wie Erinnerungsfetzen ins Buch sequenziert, wobei die Deportation von Zugaufnahmen begleitet wird, die als Wirrwarr des Traumas den retinalen Resten der Insassen entnommen sein könnten. Die Wiederholungen der Schriftebene, die chronologisch erinnert, zeigt nicht nur die Massivität, die schiere Menge der Menschen, denen ähnliches widerfahren ist, sondern auch in den Abweichungen die Individualität eines jeden Erlebnisses. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Wiederholungen zu streichen und die Textebene linearer zu gestalten. Das das nicht passiert, zeugt nicht nur von Respekt für die Gesprächspartner:innen. Ob auf deutscher, rumänischer oder russischer Seite: das Leben der Deportierten war gleichermaßen wenig wert. Diesem quantitativen Umgang mit Menschen stellt Schroeder die qualitative Wiederholung entgegen: mit jeder Wiederholung kommt es zur Veränderung des Wiederholten. Erinnerungen sind eben nicht austauschbar. Sie sind – und ich paraphrasiere aus dem Buch – der Chor, der eine Melodie verstärkt.

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