Goldmedaille 24|25
Studentische Abschlussarbeit

Die Schwerkraft des Kinderwunsches

Katharina Jaegers Fotografien beschäftigen sich mit der Hoffnungslosigkeit des Kinderwunsches und der Machtlosigkeit gegenüber Ärzt*innen und ihrem eigenen Körper.
Sie verarbeitet Fehlschläge mit künstlicher Befruchtung und erlangt mit ihrer künstlerischen Arbeit die Kontrolle zurück. Das Buch beinhaltet in Textform ihre Erfahrungen in den Kliniken als Gedächtnisprotokolle, ergänzt durch Schriftwechsel mit ihrer Psychologin und Mitarbeiterinnen der Kliniken. In ihrer fotografischen Arbeit konzentriert sie sich auf das gesammelte Material, die medizinischen Produkte, die an ihrem Körper angewendet wurden, um ihn empfänglich für einen Embryo im Rahmen der künstlichen Befruchtung zu machen. Diese Fotografien sind inszenierte Bilder im Studio. Hinzu kommen Stimmungsbilder aus der Natur, die ihre Gedanken bündeln könnten. Ergänzt werden diese beiden Motivebenen durch Mikroskopfotografien ihrer Embryos, die in ihrem Körper nicht überlebten.

Bildautor*innen: Katharina Jaeger

Textautor*innen: Katharina Jaeger

Gestaltung: Yeonjung Lee

Herausgeber*innen: Katharina Jaeger

Verlag: Self-Publishing

Verlag Bestell-Link: Die Schwerkraft des Kinderwunsches

Laudation von Dr. Anja Schürmann
Kulturwissenschaftliches Institut (KWI) Essen | Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Forschungsorganisation

Welche Farbe hat ein Wunsch? Welches Material, welche visuelle Entsprechung? Möglicherweise ist er in milchige Plastikfolie eingeschlagen, besitzt vielleicht einen goldschimmernden Einband oder ist bescheiden blindgeprägt und mit beweglichen Blasen versehen. Genauso begegnet man der fotografischen Abschlussarbeit von Katharina Jaeger, vorgelegt an der Kunsthochschule Kassel.
Schlägt man das Buch auf, hält die Schweizer Broschur den Wunsch, der innen farbig und unscharf wird von der Realität im Buchblock getrennt. Dort wird die – Jaegers – Kinderwunschbehandlung beschrieben. Chronologisch beginnend mit einem Wunsch und einem Arzt, der diesen Wunsch nicht anerkennt.
Zeit vergeht in diesem Buch, Erzählzeit und erzählte Zeit gleichen sich an. Elf Fotos von hormongespritzten Bäuchen entsprechen elf Tagen Hormonspritzen. Durch starke Weitwinkel werden Behandlungsräume perspektivisch nicht nur weg, sondern auch in die Zukunft, auf das Ziel Mutterschaft gerückt. Als Kampf wird Kinderwunsch ebenfalls gezeigt, Tücher wie mit einem Degen aufgespießt – ein Gegenbild zu ikonischen Inseminationsdarstellungen, wo Eizellen mit Kanülen befruchtet werden. Als Gedächtnisprotokolle hält Jaeger ihre Erlebnisse fest, ergänzt durch Kommunikation mit einer Psychologin und dem Klinikpersonal.
Es kommt der vierte, fünfte und sechste Versuch. Mit den Texten lese ich auch die Bilder anders. Aus mäandernden Farbflächen werden nun blaue Flecke. Und auch Echoräume für unbeantwortbare Fragen, die sich dennoch stellen.
Die medizinischen Geräte werden zu Heilsversprechen, die Spritze zum Schwert, Tabletten, Nadeln und Aufziehfläschchen zu Kirchen. Der Zyklus der Zyklen, der Zyklus der nicht geglückten Versuche wird im Buch aufgenommen in einer Doppelseite, die eine medizinische mit einer fotografischen Aufnahme kombiniert. Links sieht man einen Blick nach außen, Bäume ohne Blätter, rechts einen Blick nach innen, Zellengewirr.
In aller Genauigkeit und medizinischen Präzision arbeitet das Buch an Dingen, die nicht existieren. Die Dinge, die existieren, werden dadurch zu Beschwörungen. Die Fragen, die sich dennoch stellen, sind nicht nur privat, auch politisch: warum ist in Deutschland eine Samen- aber keine Eizellenspende erlaubt? Warum übernimmt die Krankenkasse Kinderwunschbehandlungen nur bei verheirateten Paaren? Und was heißt reproduktive Gerechtigkeit bei den Preisen der Reproduktionsmedizin?
Katharina Jaeger beendet das Buch mit einem Zitat von Simone Weil: „Attention is the purest and rarest form of generosity“. Großzügig ist die Art und Weise, wie Jaeger dem Thema Kinderwunsch in diesem Buch Ausdruck verleiht und damit nicht nur Betroffene und Politiker:innen, sondern auch Menschen erreicht, deren Versehrtheit sie zurückrufen kann. Dieses Buch hat sehr viel Aufmerksamkeit verdient. Herzlichen Glückwunsch, Katharina Jaeger!

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