Goldmedaille 24|25
Dokumentarisch-Journalistisch

Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer

Ein Dorf 1950–2022

Dieses Buch ist eine Reiseerzählung der anderen Art. Der Betrachter reist beim Lesen durch die Zeit und bleibt dabei am gleichen Ort, dem Dorf Berka in Thüringen. Das Dorf wurde von drei Fotografen einer Familie über 70 Jahre – zwischen 1950 und 2022 – fotografisch begleitet. Es handelt sich um ein ungewöhnliches, mehreren Zufällen geschuldetes Projekt, das viel erzählt über dieses Land, das Dorf, seine Menschen und wie sich die Dinge so entwickelt haben.
Zufall: Der Müllermeister von Berka, Ludwig Schirmer ist begeisterter Amateurfotograf, der nach dem Zweiten Weltkrieg neben der Arbeit als Müller noch Zeit findet das Leben im Dorf und auf dem Feld in Bilder zu fassen, die an andere große deutsche Fotografen seiner Zeit erinnern.
Zufall: Die Familie Schirmer bekommt 1950 eine Tochter, Ute, die ihre Kindheit in Berka verbringt.
Zufall: Ute heiratet 1973 Werner, den sie am Gymnasium in Oranienburg kennenlernt. Beide studieren später an der HGB Leipzig und Werner macht 1977/78 sein Diplom über Utes Heimatdorf, Berka.
Zufall: Werner bekommt 1997 einen Auftrag vom STERN, die von Helmut Kohl versprochenen „Blühenden Landschaften“ zu fotografieren und geht 1998 noch einmal nach Berka zum Fotografieren.
2001 stirbt Ludwig Schirmer, der in den sechziger Jahren zu einem der bekanntesten Werbefotografen der DDR geworden war und in seinem Nachlass tauchen zufällig einige wenige Abzüge und viele Negative seiner Berka-Bilder auf. Ute Mahler und Werner Mahler machen in ihrer Dunkelkammer erste Abzüge und ihnen wird klar welche künstlerische und dokumentarische Qualität diese Bilder haben.
2021/2022, kein Zufall mehr: Ute Mahler fährt wiederholt nach Berka und portraitiert die Jugendlichen des Dorfes, die noch nicht einmal geboren waren, als Werner Mahler das letzte mal dort fotografierte. Es sind die Ur- oder Ururenkelinnen der Menschen, die Ludwig Schirmer in den fünfziger Jahren kannte und portraitierte.

Bildautor*innen: Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer

Textautor*innen: Jenny Erpenbeck, Anja Maier, Steffen Mau, Gary Van Zante

Gestaltung: Florian Lamm

Verlag: Hartmann Books

Verlag Bestell-Link: Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer

ISBN: 978-3-96070-100-2

Laudation von Hans-Michael Koetzle
Journalist, München

Berka ist sicher nicht der Nabel der Welt. Wer das Dorf mit spitzem Finger im Atlas sucht, wird es in Thüringen nahe Sondershausen finden. Berka, nicht ganz 1000 Einwohner, eine Kirche aus dem 18. Jahrhundert, Sportplatz und Festwiese, die obligatorische Goethestraße. Rund 34 Prozent Stimmen für die AfD bei der letzten Landtagswahl. Damit ist alles gesagt, fast alles. Denn zu Berka gibt es einen Subtext, der einiges mit Familie, mit Landleben, mit Alltagskultur und nicht zuletzt mit Fotografie zu tun hat. Wo sonst haben drei Kreative aus zwei Generationen über 7 Jahrzehnte und zwei politische Systeme hinweg ein ländliches soziales Biotop mit ihrer Kamera begleitet, fast schon eine anthropologische Enquête mit allerdings künstlerischem Anspruch. Von Hause aus war Ludwig Schirmer Müller, begeistert sich allerdings früh für die Fotografie und beginnt Anfang der fünfziger Jahre „sein“ Berka fotografisch zu erkunden. Weniger das gebaute Berka, viel war und ist in dem kleinen Ort ohnehin nicht zu entdecken. Vielmehr das Miteinander der Menschen, ihren Alltag, ihre Feste, ihre Feiern im Kleinen wie ihr ausgelassenes Treiben zu bestimmten Anlässen. Schirmer, der später in der DDR als Werbefotograf Karriere machen wird, scheint den Aufnahmen keinen großen Wert beigemessen zu haben. Erst im Nachlass des Fotografen tauchen sie Anfang der 2000er Jahre auf und versetzen Ute Mahler, Schirmers Tochter und ihren Mann, Werner Mahler in Staunen. Gleich zweimal, reiner Zufall wohlgemerkt, hatte Werner Mahler zu diesem Zeitpunkt bereits in Berka fotografiert. Einmal 1977/78 im Rahmen seiner Diplomarbeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Und dann ein weiteres Mal, als es zwei Jahrzehnte später im Auftrag der Illustrierten stern „Blühende Landschaften“ zu dokumentieren galt. Werner Mahlers eher Skepsis atmende Bilder wurden nie gedruckt. Aber Ute und Werner Mahler spüren, dass sich da eine Geschichte formt, die viel mit Berka, viel mit Familie, viel mit Alltagskultur, mit Wandel unter dem Druck der Geschichte zu tun hat, und die womöglich noch nicht auserzählt ist. Folgerichtig fährt die längst auch international anerkannte Fotografin Ute Mahler noch einmal nach Berka, in das Dorf ihrer Kindheit und Jugend, das längst einem Faceliftig nach westdeutschem Vorbild unterzogen wurde, in dem fast nichts mehr ist, wie es war. Speziell die Ausgelassenheit der frühen Jahre scheint einer septischen Kälte gewichen. Leer die Straßen, die Häuser immerhin gedämmt und in der Einfahrt Platz für in viel Blech und Chrom gekleidetes Prestige. Berka, das ist eine Dorfgeschichte in vier Episoden. Ein Epos über siebzig Jahre. Eine Erzählung mit ambivalentem Ausgang. Schlicht Ein Dorf 1950–2022 haben Ute und Werner Mahler ihr soeben erschienenes Buch überschrieben. Großzügig schöpft es gleich aus vier fotografischen Konvoluten, zusammengehalten von dem teilnehmenden Blick auf eine soziale Welt im Kleinen. Exzellent gedruckt, überlegt gestaltet, in lichtes Duoleinen gekleidet und mit einem festen, gleichwohl flexiblen Einband ausgestattet, hat der Titel im Verlag Hartmann Books in seiner Idee wie in seiner konzeptionell-handwerklichen Übersetzung in ein Buch die Jury auf Anhieb überzeugt. In der Kategorie Bildband dokumentarische Fotografie geht eine Würdigung in Gold an Ein Dorf von Ute und Werner Mahler.

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